ELLA KAPITEL 1 – WER IST DENN HIER SCHON 40?!?

Lesedauer 6 Minuten

„Bescheidene Fragen unseres Unterbewusstseins“

Es ist schon spät. Von meinem Balkon aus beobachte ich, wie die Lichter in den Fenstern des Innenhofs nach und nach erlöschen. Nur das Flackern der Kerzen auf meinem Tisch erhellt die Nacht, während ich gedanklich zu der gestrigen Geburtstagsfeier zurückkehre …

Es war einer dieser tropischen Sommerabende mit lauem Wind, eiskalter Weißweinschorle und guten Gesprächen.

Mitten in einem solchen drang die Stimme der Gastgeberin, einer langjährigen, engen Freundin zu mir durch. Es war nur ein Satzfetzen aus der Konversation, die sie gerade führte: „… Ah ja, ich weiß noch. Das hast Du mir zu meinem 40. geschenkt! …“

Und wie aus dem Nichts hörte ich mein Unterbewusstsein, dass sich ja sonst eher rar macht, arrogant und spöttisch zu mir sagen:

WER ist denn hier bitte schon 40?!?!!!?

Es dauerte wie immer einen klitzekleinen Moment, bis mein Bewusstsein wieder die Oberhand gewann und mir einfiel: „DU bist 40. Du bist sogar schon 44!“ …

Das passiert mir nun schon seit einigen Jahren und ich fühle mich jedes Mal wieder einen Mikro-Augenblick geistig verwirrt.

Ich meine, ich lag ja glücklicherweise nicht 10 Jahre im Koma, hatte eine Amnesie oder sonst etwas, was erklären könnte, warum ich mich regelmäßig erschrecke, wenn mir klar wird, dass ich nicht mehr 27 bis maximal 35 bin.

Woran liegt es also, dass ich mir offensichtlich nicht jederzeit bewusst bin, wie viele Jahre ich schon gelebt habe? 

Fühle ich mich noch nicht so alt?

Spontan würde ich das mit JA beantworten, aber wie alt fühlt man sich denn mit 44? Durch was wird Alter definiert?

Benehmen, Aussehen, Kleidung, Sprache?

Natürlich sind mir die vereinzelten grauen Haare aufgefallen. Schließlich zupfe ich sie mir schon eine Weile akribisch aus. Und mir ist auch nicht entgangen, dass meine Haut nicht mehr so fresh ist wie mit 20.

Mein Kleidungsstil hat sich allerdings kaum verändert … na ja, obwohl, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, verstauben die High Heels wohl doch schon länger in der Ecke, seit sie gegen Schlappen von Birkenstock eingetauscht wurden.

Und mein Benehmen?

Also wie soll ich sagen … Ich lache noch immer zu laut, habe keine Skrupel, irgendjemanden anzuquatschen, und wenn der richtige Song läuft, feiere ich in meinem Auto jedes Mal eine Party. 

All die Jahre haben meine Bereitschaft für nächtliche Schwimmbad-Abenteuer, Gespräche, bis die Sonne aufgeht und einen Tanz im Regen nicht geschmälert. Im Gegenteil. Manchmal sehne ich mich so sehr nach einer Fahrt auf einem Fahrradgepäckträger, dass es fast weh tut … der Wind in den Haaren verbunden mit dem Gefühl, dass alles möglich ist …

Zeigt sich älter werden dann in der Unlust, erst nachts um 1 Uhr in irgendeinen Club zu gehen, der noch halb leer ist, obwohl man sich lieber ins Bett kuscheln würde? Oder war das, wenn wir ehrlich sind, nicht auch schon mit 25 sche&%e?

Also WAS genau ist Alter und welche Vorteile bietet es?

Und jetzt kommt mir bitte nicht mit Altersweisheit.

Das ist nämlich auch so eine gesellschaftlich etablierte Lüge, die verspricht, dass sich mit dem Alter automatisch auch das Einsehen eigener Fehler, das Verstehen der Vergangenheit und das Reflektieren des persönlichen Verhaltens einstellt.

Das ist Bullshit. Ich kenne Dutzende ältere Menschen, die von Weisheit so weit entfernt sind, wie Frodo zu Beginn seiner Reise von Mordor.

Und der Weg zu innerem Frieden ist mindestens fast genauso unerreichbar und anstrengend, wie der zum Schicksalsberg. Es ist auch hier wie immer im Leben: Man kriegt nichts geschenkt!

Also was ist das dann für eine zynische Marotte, dass wir Menschen erst dann erkennen, was wir hatten, wenn es vergangen ist?

Oder auch das, was wir nicht hatten! Ich meine, wie viele Jahre habe ich damit verschwendet herauszufinden, was ich nicht will …

Aber was ich will, weiß ich immer noch nicht. Nicht wirklich.

Mit 44 habe ich das Gefühl, dass ich langsam auf meine 2. Lebenshälfte zusteuere. Wahrscheinlich habe ich diesen Zenit schon überschritten, aber den Gedanken verdränge ich bisher erfolgreich und Weißwein hilft mir dabei.

Midlife-Crisis? Kann sein. Vielleicht auch nur das weise Einsehen, dass ich bald am Ende meiner Möglichkeiten ankommen werde. 

Der Status quo ist leider nicht sonderlich vielversprechend.

Single mit Mitte 40, ständig knapp bei Kasse, kleiner Freundeskreis und wenn wir mal ehrlich sind, generell eigentlich ohne Backup-Plan.

Die letzten 15 Jahre sind in Lichtgeschwindigkeit an mir vorbeigezogen. All die Tage sind einfach vergangen, während ich damit beschäftigt war, an nicht eingelöste Versprechen zu glauben, die mir nie jemand gegeben hat.

Aus einem mir heute unerfindlichen Grund, gab es eine Zeit in meinem Leben, in der ich davon überzeugt war, dass ich ein Recht auf all das hatte, was die Gesellschaft als Glück definiert. Ich dachte, ich hätte die Fäden in der Hand … was für arrogante Narren wir Menschen manchmal sind.

Vielleicht ist die Prägung der 90er-Jahre schuld, als ich Teenager war.

Eine Zeit, in der wir dachten, dass ab jetzt alles möglich sei, dass wir die Regeln des Alltags durchbrechen und nicht so werden würden, wie unsere Eltern … Rebellion! … solange, bis sich nach und nach doch fast alle anpassten.

Aber zunächst waren die 90er bunt und schmeckten chemisch. MTV gab uns einen Eindruck von dem, was uns im Leben erwarten würde. Das damals neue Internet ließ unsere Welt, in der Auslandsgespräche zu horrenden Minutenpreisen abgerechnet wurden, grenzenlos wirken.

DJs legten noch mit Vinylplatten auf, Hip-Hop war groß und die ersten elektronischen Beats waren überall zu hören. Es war auch die Zeit der aufkommenden Supermodels, die für viele Mädchen meiner Generation ein optisches Vorbild waren. In dem Alter nicht gerade förderlich für das eigene Selbstwertgefühl.

Unsere Begeisterung wurde von dem damals rasanten technischen Fortschritt geschürt und den gesellschaftlichen Strukturen unterdrückt.

Es gab bestimmte Dinge, die man tun musste. Immer und immer wieder.

Du musst …

… jetzt aufstehen.

… in den Kindergarten.

… in die Schule.

… einen guten Schulabschluss machen, damit Du einen Ausbildungsplatz bekommst. Denn ohne den bist Du sowieso verloren in diesem Leben!

… und natürlich musst besser noch Du studieren oder eben zumindest eine Lehre machen … und so weiter …

Für mich war all das, all diese „Du musst“s unerträglich.

Vielleicht stand für mich deshalb außer Frage, dass ich für all den Struggle einen Ausgleich bekommen würde. In Form eines tollen Jobs, eines liebevollen Partners und einem schönen Leben … wie wunderbar naiv wir doch mit 25 sind …

Damals war ich überzeugt davon, jemanden zu finden, mit dem ich alt werde. Und zwar DER EINE, Ihr wisst schon … Ich glaubte nie an die Ehe, aber an die große Liebe. Und ich fand sie.

Zweimal.

Aber jetzt, wo es darauf ankommt, bin ich allein.

Mit 25 und sogar mit 35 hat mir rückblickend das zwischenzeitliche Singledasein nicht so viel ausgemacht. Einfach, weil ich noch Zeit hatte und damit meinen Happy-End-Glauben aufrechterhalten konnte.

Aber mit fast 45 und nach einer Beziehung, in dem mir jegliche Illusionen genommen wurden, ist nichts mehr davon übrig.

Damit wir uns richtig verstehen: Ich bin nicht verbittert. Natürlich glaube ich noch immer mit jeder Faser meines Körpers an die Liebe. Sie ist das, was mich vor dem Wahnsinn bewahrt. 

Aber früher war die große Liebe für mich wie rosa Zuckerwatte, leicht und süß und dieses Gefühl von „Wir beide gegen den Rest der Welt“ konnte ich bisher nicht ersetzen.

Meine Ansprüche waren hoch, viel zu hoch, wie mir in den vergangenen Jahren bewusstwurde. Das, was ich damals wollte, wurde von Hollywood und meinen Glaubenssätzen geschaffen und hatte, wie so einiges in meinem Leben, nicht viel mit der Realität zu tun.

Vielleicht hatte auch meine Oma recht, als sie mich davor warnte, dass die Zeit mit dem Alter immer schneller vergehen wird. Funktioniert Zeit am Ende genauso wie Sekundenschlaf, nur viel schneller?

Oder empfinde ich diesen Schock darüber, dass mein Alter mittlerweile mit einer 4 beginnt, weil bereits schätzungsweise über die Hälfte meiner Lebenszeit vergangen ist und ich noch nicht mal, das obere Drittel meiner „Things to do in this life“-Liste umgesetzt habe?

Allein wenn ich darüber nachdenke, zieht sich mein Magen schon zusammen. Kommt das von dem Druck, den ich immer spüre, wenn ich Zeit und unerledigte To-dos gedanklich zusammenbringe?

Oder ist es Punkt 7 auf der Liste „Bungee-Sprung im Amazonas-Gebiet“ der Grund dafür, dass mir übel wird? … Wann genau war mir das denn wichtig?!?

Trauere ich wirklich nur der verschwendeten Zeit nach oder sind es viel mehr die verpassten Möglichkeiten, die ich rückblickend erkenne und ungenutzt verstreichen ließ?

Quält es mich, weil ich befürchte langsam, aber sicher den Glauben daran zu verlieren, es jetzt noch schaffen zu können? Und viel wichtiger:

WAS genau will ich denn eigentlich noch schaffen?

Da ich dafür offensichtlich noch immer kein glasklares Lebenskonzept habe, drängt sich der Gedanke auf, dass es mir eventuell nur darum geht, dass wir uns mit dem Alter dem Ende unserer Möglichkeiten nähern.

Stört es mich älter zu werden, weil ich nicht mehr tun könnte, was ich gar nicht tun will?

Fragen über Fragen, die ich sicherlich in dieser Nacht nicht mehr lösen werde …

Für heute ist es genug, ich sollte schlafen gehen.

Morgen kommt Avani wieder, die über mir wohnt und wir werden gemeinsam Antworten auf meine Fragen finden. Schließlich muss man der Realität ja auch ins Auge blicken, denke ich noch, während ich mich dabei erwische, wie ich meine Brille vor dem Badezimmerspiegel abnehme, weil das den gleichen Anti-Age-Effekt wie der Filter meiner Handykamera hat …

                                                 

Ach ja, mein Name ist Ella.

Und ich erzähle Dir hier, wie ich wurde, wer ich heute bin.

P.S. Falls Du mein fast biblisches Alter noch nicht erreicht haben solltest, ist das trotzdem interessant für Dich.

Freu Dich: Du hast noch alle Zeit der Welt, meine Fehler nicht zu wiederholen …

Alle Rechte an dem Blog „Ella“ bleiben beim Urheber (Melanie gremm). Es sind keine Änderungen, Kopien und Bearbeitungen erlaubt. 

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ich bin Melanie...

… und die Autorin von »Ella«, meinem Romanblog, der sich mit den Fragen beschäftigt, die wir uns meist nur im inneren Dialog stellen. 

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